Historie: Berufswahl und Lehrzeit der Handwerker 1876

Historie: Berufswahl und Lehrzeit der Handwerker 1876<br><img class="text-align: justify" src="https://bildungswissenschaftler.de/wp-content/uploads/2013/07/theorie_120.png"/>

Hier eine ergänzende Abhandlung zur Berufswahl aus dem Jahre 1876. Anmerkungen sind in orangener Farbe dargestellt. In dem Auszug geht es um verschiedene Kontexte der Berufswahl, aber auch der Lehre und gesundheitsvorsorge in der betrieblichen Arbeitsstätte. Eine sehr spanende Darstellung, wie ich finde.

“Die Berufswahl erfolgt entweder aus freien Stücken oder aber wird durch Zureden veranlasst (Zureden enthält hier auch Zwang. Alle drei Varianten sind heute noch gültig). In dem einen wie in dem anderen Falle hat sie oft beklagenswerthe Folgen. So kann man alle Tage die traurige Erfahrung machen, dass Jünglinge die Erlernung eines Handwerkers wählen, welches ihrer Körperbeschaffenheit durchaus nicht angemessen ist und sie nicht bloss dem Siechthum entgegenführt, sondern geradezu vor der Zeit ins Grab stürzt. Kaum braucht bemerkt zu warden, wie nachteilig es ist, wenn Jünglinge, die eine schwache Brust haben oder schon den Keim zur Schwindsucht in sich tragen, als Schneider oder Schleifer in die Lehre gehen oder in Fabriken arbeiten, wo die Luft mit Staub und Dämpfen angefüllt ist. Der Menschenfreund kann auf diese und ähnliche unglücklichen und unheilvollen Berufswahlen nur mit mitleidigem Auge herabsehen. Warnungen fehlen oder helfen nicht (wie heute), eine gesetzliche Richtschnur wird vermisst (die gibt es heute teilweise). Was soll hier geschehen? Guter Rath ist bei der Berufswahl theuer.

Allenfalls könnte, wie Pappenheim glaubt, dem unausbleiblichem Jammer und der späten Reue vorgebeugt warden, wenn den Meistern die Pflicht auferlegt würde, nur solche Lehrlinge anzunehmen, die sich nach einem ärztlichen Atteste vermöge ihrer körperlichen Beschaffenheit für dieses oder jenes Handwerk eignen. Die Gemeinde könnte sich von armen Lehrlingen die kleine Geldauslage für das ärztliche Zeugniss bei der Gesellenprüfung wieder erstatten lassen (indirekte Gesundheitsförderung).  Das Attest selbst sei aufgrund einer vorliegenden Instruction, welche die wichtigsten gesundheitswidrigen Punkte jedes Handwerks mehr aufklärt, abzufassen. Allein eine solche gesetzliche Verwendung entspricht nicht dem Leben, sondern erschwert und verletzt die Berufswahl, ist mithin nicht ausführbar. Manches Unheil möchte sich wohl verhüten lassen, wenn die Lehrzeit nicht blindlings angetreten, sondern die Berufswahl vorher mit einem zuverlässigen Sachverständigen reichlich überlegt würde (heute steht die Frage, wer ein zuverlässiger SAchverständiger ist, im Vordergrund). So wie jetzt die Verhältnisse liegen, last sich nicht gut ein besserer Rath geben.

Noch am häufigsten ist im Handwerkerstande die Lehrzeit Erkrankungen ausgesetzt, mögen sie durch die an das Gewerbe sich knüpfenden Gefahren oder durch Unkenntniss der Schädlichkeiten bedingt warden. Ist die Lehrzeit einmal glücklich überstanden, so macht sich die Macht der Gewohnheit geltend.

Bisher hat der Staat dem Handwerkerstande in gesundheitlicher Beziehung noch nicht die Aufmerksamkeit geschenkt, wie er sie wirklich verdient. Pappenheim hat folgenden beachtenswerthen Vorschlag gemacht: “In der Gesellenprüfung sowohl als in der Meisterprüfung derjenigen Gewerbe, die Gefahren einschließen, welche technisches Wissen voraussetzen, muss sich die Prüfung auch hierauf und auf die besten Mittel – dies sind die überall ausführbaren – in der beregten Hinsicht erstrecken”. Zu dem Ende habe der Staat eine aus einem Technologen, Arzte und Verwaltungsbeamten bestehende Commision mit der Abfassung einer kurzen tabellarischen Üebersicht der Gefahren und ihrer Schutzmittel zu beauftragen. Wenn auch nicht gerade die Lehrlinge und Gesellen zum Ankaufe einer solchen Tabelle, deren Preis ganz niedrig zu setzen ist, verpflichtet sind, so sollen doch wenigstens die Meister dieselbe besitzen und in der Werkstätte an  die Wand heften. Was das Auge tatsächlich sieht, prägt sich dem Geiste leicht ein. Auf diese Weise werden die Lehrlinge schon gleich beim ersten Beginn des Handwerkes mit den Gefahren und den Schutzmitteln genau bekannt. “Durch Schaden erst klug werden” ist viel zu spät (Dieser Absatz beschreibt die ersten Forderungen nach betrieblichen Arbeitsschutzregeln).

Wohlgesinnte Meister richten auch auf die sittlichgute Führung der Lehrlinge und Gesellen ihr Augenmerk. Wie sehr diese Lebensverhältnisse der Beaufsichtigung bedürfen, braucht nicht länger nachgewiesen zu werden. Daher bestimmt auch die könig. Preuss. Gewerbeordnung vom 17. Januar 1845 §136 also: “Die Ortspolizeiobrigkeit hat darauf zu achten, dass bei Beschäftigung und Behandlung der Gesellen, Gehilfen und Lehrlinge gebührende Rücksicht auf Gesundheit und Sittlichkeit genommen und denjenigen, welche des Schul- und Religionsunterrichts noch bedürfen, Zeit dazu gelassen werde.” Unsere Sonntagsschulen und die Gesellenvereine bieten dazu eine schöne Gelegenheit (Schwächeren Schülern soll Zeit gelassen werden. Obwohl es noch keine duale Ausbildung gab, war Schulbildung in der Berufslehre schon Thema. Aus den Sonntagsschulen entwickelte sich am Ende die Schulseite der dualen Berufsausbildung).

Deutsche Zeitschrift für die Staatsarzneikunde, Band 25, S.13ff, 1876.

©2013 Achim Gilfert. Dieser Beitrag ist zur Weiterverbreitung nach den in diesem Blog veröffentlichten Regeln zum Urheberrecht veröffentlicht. Diese Regeln finden Sie hier: Urheberrechtshinweise. Bildnachweis: Wikimedia Commons – Bildveröffentlichung vor 1923.

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