Eine Fahrt durch das deutsche Bildungssystem – Die Bildungsbiographie von Julia

Eine Fahrt durch das deutsche Bildungssystem – Die Bildungsbiographie von Julia<br><img class="text-align: justify" src="https://bildungswissenschaftler.de/wp-content/uploads/2013/07/praxis_120.png"/>

Anfang April habe ich meine ehemalige Kommilitonin Julia zu Ihrer Bildungsbiographie interviewt. Ihr Beispiel gestattet uns einen Einblick in die Lebenswelt eines Menschen, der von der Schule bis zum Master praktisch alle Etappen unseres Bildungssystems mitgenommen hat. Der Weg, den Julia genommen hat, war schwer, anstrengend, forderte Überwindung und zerrte durchaus jederzeit an der finanziellen Existenz.

Und dennoch – Die Qualifikationskombination, die das Resultat aus ihrem „Bildungsweg“ ist, wird ihr im Verlaufe des Berufslebens viele Möglichkeiten eröffnen. Julia ist nun 32 Jahre alt und wohnt in der Nähe von Köln. Julia wurde 1983 in der ehemaligen DDR geboren und wuchs knapp 20 Kilometer von Dresden auf. Nach der regulären Schulzeit erhielt sie mit 16 Jahren die Fachoberschulreife an einer Mittelschule. Wie für alle Jugendliche stellte sich auch hier die Frage, welchen beruflichen Weg man wählen möchte. Ihre Mutter, selbst im Bürobereich tätig, schlug einen Beruf im Büro vor, ihr Vater, der als umgeschulter Schlosser nun als Vermessungstechniker arbeitete, war auch handwerklichen Berufen nicht abgeneigt. Bei Julia war der Grundwunsch eine Tätigkeit im Modedesign. Kreativ sein, gestalten und auch das Material waren Eigenschaften, die diesen Wunsch reifen ließen. Auch wenn mancher einen Beruf wie Modedesignerin eher als Träumerei abtut, so versuchte Julia dennoch einen Beruf zu finden, der zumindest die Kompetenzen vermittelt, die für einen gestalterischen Beruf notwendig sind. In der engeren Wahl war der Kreativberuf des Konditorhandwerks wie auch der, der gestaltungstechnischen Assistentin. Hierauf fiel am Ende die Wahl, da dieser Ausbildungsgang auch das Fach Zeichnen beinhaltete und somit der Mode näher stand als das Konditorgewerk. Bei der gestaltungstechnischen Assistentin handelt es sich um eine zweijährige vollschulische Ausbildung, die staatlich anerkannt ist. 2001 bestand sie die Prüfung an einer Berufsfachschule in Sachsen mit dem Schwerpunkt „Grafik“ und durfte somit ihre erste Berufsbezeichnung führen.

Nun stellte sich die Frage, was sich damit machen lässt. Im strukturschwachen Umfeld Dresdens, ließ sich keine Perspektive erschließen. Weil Julia während der Ausbildung zur gestaltungstechnischen Assistentin ein Praktikum in einem Werbetechnik-Betrieb absolviert hatte, bewarb sie sich entsprechend deutschlandweit um einen dualen Berufsausbildungsplatz. Ein Kölner Schilder- und Lichtreklame Hersteller gab seine Zusage. So verließ Julia noch im Jahre 2001 Ihre Heimat, zog nach Köln und sah in dem Wegzug die Möglichkeit, einer besseren beruflichen (Lebens) Entwicklung. Ihr Bruder tat es ihr mit 24 Jahren gleich und verließ ebenfalls Sachsen. Es ist schon eine mutige Entscheidung, als junge Frau ihre Heimat zu verlassen und sich ganz alleine in einer fremden Gegend ein neues soziales Umfeld zu schaffen. Im Interview wurde auch Julias’ Stolz darauf sehr deutlich. Mit 18 Jahren nach Köln zu ziehen, das alles geschafft zu haben und dort direkt klar gekommen zu sein, ist eine bemerkenswerte Leistung. So mancher würde das nicht wagen.

Julias Ausbildungsbetrieb war ein kleiner, typischer Handwerksbetrieb mit weniger als 10 Mitarbeitern der über Bedarf ausgebildet hat. Eine Übernahme war praktisch von vornherein ausgeschlossen. Aber der Beruf verspricht kreatives Potential. Leider sah die Realität dann anders aus. Gerade in handwerklichen Berufen ist der Kundenwunsch recht unverrückbar. Die Vorstellungen der Kunden sind klar einzuhalten bzw. ist dem so nahe wie möglich zu kommen. Ständiger Zeit- und Auftragsdruck führte dazu, dass sich Julia häufig überfordert fühlte. Die Ausbildung war für sie einfach nerv tötend, kräftezehrend und ging ihr an die Substanz. Julia zog aber ihre Ausbildung durch und durfte im Anschluss die Berufsbezeichnung Schilder- und Lichtreklameherstellerin führen. Der zweite, in Deutschland anerkannte Berufsabschluss. In der Lehre erhielt sie neben der Ausbildungsvergütung auch finanzielle Unterstützung der Eltern, sodass diese Zeit finanziell erträglich blieb. Dazu sei angemerkt, dass Köln ein ziemlich teures Wohnpflaster ist.

Das Problem war nun, zwei Berufsabschlüsse in der Tasche, jedoch erkannt zu haben, den Beruf nicht ausüben zu wollen. Bedingt dadurch stellte sich erneute Perspektivlosigkeit, kombiniert mit der Arbeitslosigkeit ein. Diese fiel auch in die Zeit, als die Jobsuche noch schwieriger war als heute. Wie bei der Agentur für Arbeit üblich erhielt Julia Bildungsangebote, die Sie auch annahm. Diese bewertete sie auch durchaus gut und passend. Die Weiterbildungen haben ihr persönlich sehr geholfen. Die Maßnahmen unterstützen beim „nach vorne“ schauen.

Wie ging es also weiter? Der Zufall brachte Julia auf das Abi über zweiten Bildungsweg. Hier kann man sich weiter orientieren und ein Abitur verspricht breitere berufliche Entwicklung. Nach einem Vorkurs begann Julia mit 21 Jahren den 3 Jahre lang währenden Lernprozess in Tagesform. Das bedeutete auch deutliche finanzielle Einschnitte, wenngleich sie Schüler BAföG bezog. Diese waren für Sie aber nicht ganz so schlimm, denn Arbeitslosengeld II (heute HartzIV) wäre schlimmer gewesen. Julia gefiel in dieser Zeit die soziale Eingebundenheit in Gruppen. So stellte sie auch fest, dass sie mit bestimmten Menschen besser klar kam, als zum Beispiel mit Ihrem Chef in dem Schilderbetrieb. Der Umgang mit dem Hausmeister war angenehmer, vielleicht auch einfach deshalb, weil die soziale Hürde für Julia niedriger war. Einfache Menschen sind oft menschlich angenehmer als dynamische Erfolgstypen und man braucht sich nicht so verstellen. Der eine oder andere mag das kennen, wenngleich diese Aussage natürlich keine allgemeine Gültigkeit hat. Julia sagt heute, es war anstrengend und lang, aber sie würde es wieder so machen.

2008 war es soweit. Mit einem ordentlichen Abiturzeugnis stand Julia mit einem weiteren, in Deutschland anerkannten Zertifikat in der Hand auf den Stufen der Schule und nun ging es darum zu schauen, was man studieren kann. In jedem Fall wusste Julia, dass sie nicht mehr arbeitslos sein möchte. Diesen belastenden Zustand wollte sie nicht mehr haben. Dass Julia studieren wollte war nun klar, denn dafür hat sie das Abitur gemacht. Sie darf studieren, aber das Studium muss Sinn machen. Im Rahmen der Recherche um ein passendes Studium fiel die Wahl auf die Fernuni Hagen, die zu dieser Zeit begann, das Studium des Bachelor Bildungswissenschaft anzubieten. Die Inhalte klangen interessant und machten Hoffnung auf eine Herausforderung, die es sicher werden würde. Als Arbeiterin bleiben Zweifel nicht aus, ob man ein Studium bewältigen kann. Julias‘ Ansatz war, erstmal anzufangen und dann weiter zu schauen. Sehen, was sich ergibt.

Frisch eingeschrieben begann sie das Bachelor Studium an der Fernuniversität Hagen. Hierbei handelt es sich um die einzige deutsche, allgemeine Hochschule, die über die Fernlehre absolviert werden kann. Die Absolventen der Universität haben den Ruf, Durchhaltevermögen zu besitzen, Biss zu haben und in der Lage zu sein, sich über lange Strecken selbst zu motivieren. Das ist nicht unbedingt für jeden etwas, bietet aber klar die Möglichkeit, sich auch neben der Arbeit akademisch weiterzubilden. Denn anders als bei vielen Universitäten sind hier gerade beruflich qualifizierte Menschen erwünscht und die Angebote darauf ausgerichtet. Damit kam für Julia noch eine zusätzliche Komponente ins Spiel. Neben der Herausforderung des Studierens kommt noch die Herausforderung der Lernform dazu. Der Vorteil liegt allerdings dann auch in der Unabhängigkeit der räumlichen Nähe zur Universität wie auch in der Möglichkeit der überwiegend freien Zeiteinteilung.

So war es für Julia am Anfang des Studiums recht schwer, denn sie musste sich im ersten Semester erst einmal daran gewöhnen, den eigenen Lernprozess zu organisieren. Anders als zum Beispiel in der Ausbildung, hatte sie ihr Studium in weiten Teilen selbst zu strukturieren. So war es für sie zum Beispiel schwierig auf zwei Klausuren zu einem Zeitpunkt zu lernen und dies zu vereinbaren. Weil es eine durch die Fernlehre bedingte recht hohe persönliche wie auch räumliche Distanz zu den Lehrenden gibt, hat Julia versucht, jede Präsenzveranstaltung mitzunehmen. Der persönliche Kontakt zu den Lehrenden, der im Rahmen dieser Veranstaltungen aufgebaut werden konnte, war hilfreich. Durch die Angebotsstruktur der Fernuni Hagen, die im Besonderen eben auch auf beruflich qualifizierte ausgerichtet ist, fanden sich in ihrem Studium überwiegend ältere Kommilitoninnen. Julia selbst sagt, es wäre ihr wohl schwerer gefallen, wenn sie nur jüngere Kommilitoninnen gehabt hätte. Menschen mit bestimmter Lebenserfahrung passen besser zu ihr und ihrem Naturell. Durch die Teilnahme an Lerngruppen und durch das Kennenlernen von Gleichgesinnten, entwickelten sich Netzwerke, in denen man sich gegenseitig unterstützte. Es war sehr wichtig, nicht nur „in der eigenen Suppe zu kochen“, sondern über den Austausch auf die Klausuren hin zu arbeiten. Julia merkte auch, dass das Studium zu bewältigen ist und Freude macht. Die Noten wurden immer besser und motivierten zum Weitermachen. Sie ging auch durch Tiefen, die jeden irgendwie einmal treffen. So verpasste sie aufgrund eines Missverständnisses den Abgabetermin einer Hausarbeit und fiel in einem Modul durch. Für die Bezieherin von Bafög eine mittlere Katastrophe, denn dieses ist ein finanzielles Fundament während des Studiums. Glücklicherweise fand sich im Gespräch mit der Universität eine formale und zielführende Lösung, aber das Gefühl, unverschuldet eine Hausarbeit nochmal schreiben zu müssen war sehr schlecht. Aber auch wenn diese Erlebnisse, im Moment des Auftretens, durchaus dramatisch und schwierig sind, lehren sie doch, dass sich fast alles in Gesprächen und gemeinsamer Bearbeitung lösen lassen. Julia beendete das Bachelorstudium mit einer glatten 2. Ein mehr als ordentlicher Abschluss!

Klar war auch, dass Julia weitermachen wollte. So schrieb sie sich in den Masterstudiengang Bildung und Medien ein und studierte weiter. Sie empfand den Masterstudiengang in den persönlichen Kontakten als oberflächlicher und zweckorientierter. Die eher familiären und intensiveren Kontakte im Bachelorstudiengang waren hier nicht mehr zu finden. Möglicherweise fühlen sich die, die ein erstes Studium beginnen eher wie eine eingeschworene Gemeinschaft, in der alle vor der gleichen Hürde stehen. Im Masterstudiengang schreiben sich aber eben auch Studierende aus anderen Bereichen als der Bildungswissenschaft ein. Es war einfach anderes, aber nicht minder anstrengend. Während des Studiums fiel Julia auch einmal durch eine Prüfung. Sogar in einem Wahlfach. Julia war recht konsterniert, denn so was ist noch nie vorgekommen. Und dann noch in dem Fach, welches sie sich selbst ausgesucht hat. Im zweiten Anlauf bestand sie aber die Prüfung mit einer 1,7. Die Gesamtnote des Masterabschlusses wurde sogar noch besser. Julias Masterstudium wurde mit 1,5 bewertet.

Vor einem Schlusswort möchte ich noch ein Zitat Julias hier einfügen, in welchem sich viele Menschen auf ihrem Lebensweg wiederfinden. Und ihr Beispiel zeigt, dass es (wenn auch anstrengende) Möglichkeiten gibt, seinen Weg zu finden. Obwohl man vielleicht nie an solche Möglichkeiten gedacht hat.

„Ich war insgesamt froh, dass ich nach der schweren Zeit der Ausbildung und Arbeitslosigkeit, in der ich immer wieder die Erfahrung machte: „ich kann nichts, ich mache alles falsch, irgendwas muss ich doch können, aber ich weiß nicht was“ im Abi endlich sehen durfte: Ich kann etwas, was ich früher nie für möglich gehalten hätte. Niemand hätte gedacht, dass ich Abitur schaffe, eingeschlossen mir. Und dann auch noch den BA und den MA mit sehr guten Noten“

Eine Fahrt durch das deutsche Bildungssystem – lautete der Titel dieses Beitrags. Ich finde, er zeigt einmal mehr auf, dass es weniger die Regularien und Grenzen unseres Bildungssystems sind, die Erfolge und Misserfolge verursachen, sondern der einzelne Mensch derjenige ist, der sich ständig überwinden muss. Der sich kontinuierlich anpasst und verändert, seine Einstellungen, Gedanken und die Sicht auf die Dinge auch mal von anderer Seite einnimmt. Der Beitrag lehrt uns, dass es viel Mut kostet, viel Anstrengung und manches Mal auch viel Zeit in Anspruch nimmt, sich weiter zu entwickeln. Ich bin sicher, Julia wird dafür sorgen, dass sich andere Menschen auch Gedanken machen und „losgehen“. Auf den Weg durch unser Bildungssystem.

©2015 Achim Gilfert. Dieser Beitrag ist zur Weiterverbreitung nach den in diesem Blog veröffentlichten Regeln zum Urheberrecht veröffentlicht. Diese Regeln finden Sie hier: Urheberrechtshinweise.

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